Barrierefreiheit in der Bildung: Wie man WCAG 2.2 im E-Learning erfüllt
Überprüfung und Testen im Team ohne komplexe Technik
Einen Großteil der Anforderungen können Sie vorläufig „auf die Schnelle” überprüfen. Versuchen Sie, das System oder den Kurs nur mit Hilfe der Tastatur zu bedienen, und achten Sie darauf, dass der Fokus immer sichtbar ist und nichts ihn verdeckt; versuchen Sie, die Elemente ohne Ziehen zu bedienen und auf dem Handy mit dem Daumen kleine Schaltflächen zu treffen; Spielen Sie ein Video ohne Ton ab und überprüfen Sie, ob die Untertitel Sinn ergeben und gut lesbar sind. Schalten Sie den Bildschirmleser auf Ihrem Telefon ein und gehen Sie einige Bildschirme durch. Versuchen Sie, sich mit einem Passwort-Manager anzumelden.
WCAG 2.2 fügt keine „akademischen” Details hinzu – es befasst sich mit konkreten Hindernissen, auf die Ihre Mitarbeiter täglich stoßen: unsichtbarer Fokus, zu kleine Schaltflächen, erzwungenes Drag & Drop, chaotische Hilfe, sich wiederholende Formulare und umständliche Anmeldungen. Wenn Sie diese beseitigen, verbessern Sie die Barrierefreiheit für alle Nutzer. Legen Sie in den Vorgaben für LMS-Anbieter und die Erstellung von Inhalten das Zielniveau WCAG 2.2 fest und überprüfen Sie es anhand einfacher Szenarien aus der Sicht der Nutzer.
Barrierefreiheit ist längst kein „Nice-to-have“ mehr, insbesondere in mittleren und größeren Unternehmen. Im E-Learning entscheidet sie darüber, ob alle Mitarbeiter Zugang zu den Inhalten haben – auch Menschen mit Seh-, Hör-, motorischen oder kognitiven Beeinträchtigungen. Gut konzipierte Kurse, Plattformen und Prozesse reduzieren gleichzeitig Frustrationen und erhöhen die Abschlussquote von Kursen im gesamten Unternehmen. Als Rahmen können Sie sich auf die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) stützen. Die neueste Version 2.2 ist der offizielle Standard des W3C und erweitert die „Zwei-Eins” um neun neue Anforderungen (Erfolgskriterien).
Was genau bringt WCAG 2.2?
WCAG 2.2 behält die Prinzipien der Wahrnehmbarkeit, Bedienbarkeit, Verständlichkeit und Robustheit bei und legt nun einen größeren Schwerpunkt auf Nutzer mit Sehbehinderungen, kognitiven Einschränkungen und der Bedienung von Touch-Geräten. Zu den neuen Bereichen gehören vor allem Sichtbarkeit und Beibehaltung des Fokus bei der Bedienung über die Tastatur, Mindestgröße der Zielelemente für Zeiger (z. B. Schaltflächen), die Einschränkung von Drag-&Drop-Gesten, konsistent platzierte Hilfe, die Vermeidung wiederholter Eingaben und eine barrierefreie Anmeldung ohne anspruchsvolle kognitive Aufgaben.
Was bedeutet das in der Praxis für LMS und Online-Kurse?
Die erste Auswirkung betrifft die Steuerung und Navigation des LMS. Das fokussierte Element (ein Element, das „im Fokus” steht, ist ein Element auf dem Bildschirm, das gerade ausgewählt oder markiert ist – jedoch nicht mit der Maus, sondern mit der Tastatur) muss immer deutlich sichtbar sein; es reicht nicht aus, dass der Fokus „irgendwo” ist. Ein deutlicher Fokusindikator muss sowohl auf der Tastatur als auch in typischen Szenarien mit festen Kopfzeilen oder „sticky“ Elementen, die den Fokus verdecken können, getestet werden. WCAG 2.2 definiert hierfür die Kriterien „Focus Not Obscured“ und „Focus Appearance“ mit einer detaillierten Erläuterung.
Die zweite Auswirkung betrifft die Steuerung mit Finger und Zeiger. Interaktive Elemente sollten mindestens 24 × 24 Pixel groß sein oder, wenn sie kleiner sind, einen ausreichenden Abstand haben. Dies macht sich in der Praxis bei CTA-Schaltflächen, Symbolen, Paginierung, „Hamburger“-Menüs und kleinen Links in Fußzeilen bemerkbar.
Der dritte Bereich betrifft Gesten und Drag-Interaktionen. Wenn ein Kurs oder ein LMS Drag & Drop erfordert – beispielsweise beim Verschieben von Kacheln, der Reihenfolge von Schritten oder Schiebereglern – muss immer eine Alternative ohne Drag & Drop verfügbar sein, die mit einem einzigen Klick oder über die Tastatur bedient werden kann.
Darüber hinaus behandelt WCAG 2.2 den konsistenten Zugriff auf Hilfe über alle Seiten hinweg (z. B. Support-Kontakt, Chat oder Link zu FAQ an immer derselben Stelle), redundante Eingaben (Benutzer müssen nicht erneut dieselben Daten innerhalb eines Prozesses eingeben) und barrierefreie Authentifizierung, bei der die Anmeldung nicht auf schwierigen Gedächtnisaufgaben beruhen darf; sie muss Passwortmanager und Alternativen ohne visuelle Rätsel unterstützen.
Vorgehensweise: Inhalt vs. Plattform
Die Barrierefreiheit im E-Learning basiert auf zwei Säulen – der Plattform (LMS/LXP) und den Inhalten. Bei der Plattform sollten Sie insbesondere die Navigation mit der Tastatur, den Fokus, strukturierte Überschriften, semantische Komponenten, Alternativen zu Drag & Drop und die Größe der anklickbaren Elemente berücksichtigen. Konzentrieren Sie sich beim Inhalt auf das Hinzufügen von alternativen Texten zu Bildern, Untertiteln und Transkripten von Videos, ausreichendem Kontrast, Farbunabhängigkeit, korrekten Beschriftungen und Zuständen von Elementen und einer logischen Hierarchie der Überschriften. Aus Sicht der Personalabteilung/des Auftraggebers lohnt es sich zu überprüfen, ob der LMS-Anbieter und die Kursentwickler mit WCAG 2.2 als klarer Akzeptanzbedingung arbeiten – dies ist ein schneller Weg, um die technische Schuld zu reduzieren und die Nutzbarkeit des Bildungssystems für alle zu erhöhen.
